Birgitta Wolff, Präsidentin der Goethe-Universität Frankfurt, auf dem Forschungsgipfel 2017 (Foto: David Ausserhofer)
Birgitta Wolff, Präsidentin der Goethe-Universität Frankfurt, auf dem Forschungsgipfel 2017 (Foto: David Ausserhofer)

„Wir müssen ergebnis- und themenoffener forschen“

Nicht alle Probleme dieser Welt lassen sich mit Technologie lösen. Wir brauchen deshalb mehr soziale Innovationen, sagt Birgitta Wolff, Präsidentin der Goethe-Universität Frankfurt.

Innovation wird in Deutschland vor allem als Technikthema zelebriert: autonomes Fahren, künstliche Intelligenz (KI), Industrie 4.0. Sie sagen, diese einseitige Sichtweise müsse dringend entzaubert werden.
Ja unbedingt, weil dieses rein technologisch eingefärbte Zukunftsbild seit einigen Jahren schon manchmal bedenkliche Ausmaße annimmt, wie ich finde. Neue Technologien sind wichtig. Es darf aber nicht sein, dass demokratische Werte oder ein Querdenken aus den Geistes- und Sozialwissenschaften vorrangig als störend für Fortschritt und Innovation wahrgenommen wird, weil es dem technologischen Streben vermeintlich im Wege steht.

Nicht alle Probleme unserer Welt lassen sich mit Technik lösen, wie es uns vielleicht das Silicon Valley weismachen will?
Natürlich nicht. Wir brauchen bahnbrechende Forschung in allen möglichen Bereichen: in den Gesellschafts- und Geisteswissenschaften, in der Politik, Kunst, im Sozialbereich. Leider geht dies aber gerade im öffentlichen Verständnis und in der deutschen Förderpolitik mehr oder weniger unter – der Fokus liegt sehr stark auf Technologien. Sicher, das ist auch erst einmal nachvollziehbar, da die deutsche Wirtschaft in großen Teilen auf technologischen Innovationen aufbaut. Für eine gut funktionierende Gesellschaft muss Innovation aber viel breiter gedacht werden, weshalb wir auch im Hightech-Forum das Label „soziale Innovation“ mitdiskutiert haben.

Das Hightech-Forum von Stifterverband und Fraunhofer Gesellschaft erarbeitet innovative Konzepte und Empfehlungen für die Hightech-Strategie der Bundesregierung. Inwiefern passen disruptive Technologie und soziale Innovation zusammen?
Das wirklich Spannende sind nicht die Technologien und die darauf aufbauenden Dienste an sich, sondern deren Auswirkungen auf unser Leben: unsere Lebensweise, unsere Gewohnheiten, unser Wohlbefinden, unsere Ängste. Nehmen wir das Smartphone als Beispiel: Heute können wir uns kaum mehr vorstellen, wie wir uns früher ohne diese Technik mit Freunden und Verwandten koordiniert haben.

Wir sehen Technologien am Horizont auftauchen, wie jetzt das autonome Fahren oder das Internet der Dinge, verstehen aber nicht, wie all das unser Leben verändern kann und auch wird. Hier setzen Innovationen an, die wir als soziale Innovationen verstehen. Experten denken dabei Technologien und deren gesellschaftliche Folgen systematisch zusammen – und zwar von dem Menschen und seinem Umfeld her. Aktuell werden Innovationen meist von der Technik und den Marketingstrategien her betrachtet und entwickelt.

Birgitta Wolff (Foto: Uwe Dettmar/Goethe-Universität Frankfurt)

Birgitta Wolff, Jahrgang 1965, ist Präsidentin der Goethe-Universität Frankfurt und Mitglied im Hightech-Forum von Stifterverband und Fraunhofer-Gesellschaft. Die Wirtschaftswissenschaftlerin lehrte nach ihrer Habilitation in München unter anderem in Washington D.C., Madgeburg, Brasilien und China. Sie veröffentlichte Schriften zur Personalökonomik, Unternehmensorganisation und international vergleichende Studien. 2010 wurde sie Kultusministerin des Landes Sachsen-Anhalt. Von 2011 bis 2013 war sie Landesministerin für Wissenschaft und Wirtschaft des Landes Sachsen-Anhalt.

Wird Zukunft in Deutschland zu einseitig und damit in gewissem Maße auch fahrlässig vorgedacht?
„Fahrlässig“ wäre wohl übertrieben formuliert, weil es quer durch Deutschland sehr viele Forschungsanstrengungen für soziale, gesellschaftspolitische, zivilgesellschaftliche oder künstlerische Innovationen gibt. Diese nicht technische wissenschaftliche Arbeit fällt aber, gemessen an ihrer Bedeutung für die Gesellschaft, trotz Exzellenz leider viel zu wenig auf, was knallharte Nachteile mit sich bringt: weniger Ressourcen, weniger wissenschaftliche Reputation, weniger Kooperations- und Transfermöglichkeiten, weniger Wirkungskraft hinein in die Gesellschaft.

Wir schöpfen das Potenzial von nicht technischen oder sozialen Innovationen nicht aus und gestalten die Welt weniger im Sinne des Menschen, wie wir könnten – weil unser Innovationsfokus zu eng gefasst ist. Darin könnte man eventuell eine gewisse Nachlässigkeit gegenüber der Gesellschaft sehen.

An welcher wichtigen sozialen Innovation wird beispielsweise an Ihrer Universität aktuell geforscht?
Wir beobachten an der Goethe-Universität Frankfurt am Main unter anderem gerade, wie die altbekannte Toleranz eine Renaissance erlebt. Das Thema hört sich für viele vielleicht abgedroschen an, es ist aber hochaktuell, weshalb wir es in unserem Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an realen Fragestellungen erforschen: Sollen türkische Politiker beliebig Wahlkampf machen dürfen oder nicht – in einem gesellschaftlichen System, das sich als frei auffasst?

Hierauf intellektuell und emotional befriedigende Antworten zu geben, ist schwer, weil man sofort in Paradoxien hineingerät. Ein analytischer Zugang zu solchen Antworten ist aber sehr wichtig für Gesellschaften, um eine Kakofonie hoch emotionalisierter Stimmen zu verhindern, aus der man nur schwer wieder herauskommt. Ein anderes Beispiel: Sie können nicht mit einem Medienbegriff aus den Achtzigerjahren Phänomene erklären, die erst mit der massenhaften Verbreitung und Nutzung von digitalen Medien aufkommen. Auch hier brauchen wir also Innovation. 

Wir schöpfen das Potenzial von nicht technischen oder sozialen Innovationen nicht aus und gestalten die Welt weniger im Sinne des Menschen, wie wir könnten.
Birgitta Wolff (Foto: David Ausserhofer)

Birgitta Wolff

Präsidentin der Goethe-Universität Frankfurt

Das Hightech-Forum will soziale Innovationen stärken, wie Sie sagen. Wie soll das geschehen?
Ich bin eine von vier sogenannten Experten im Fachforum für Kooperation und Transfer, das eine Reihe von Empfehlungen und Modellen erarbeitet hat, wie beispielsweise das Innovationspotenzial von nicht technischen Hochschulen noch besser genutzt werden kann oder die Innovationskraft von Unternehmen aus dem Dienstleistungssektor. Ein dritter wichtiger Bereich, den wir herausheben wollen, sind nicht kommerzielle Innovationen aus der Zivilgesellschaft.

Was schlägt das Fachforum im Einzelnen vor?
Neben den lang etablierten Förderinstrumenten wie Verbundforschung oder industrielle Gemeinschaftsforschung sollten zum Beispiel weitere Kooperations- und Transferinstrumente etabliert werden, die stärker auf Köpfe als auf Technik gerichtet sind. Konkrete Empfehlungen beziehen sich beispielsweise auf die Personalmobilität: Innovationen entstehen letztlich in Köpfen, weshalb Experten auch mal zwischen den Sphären Wissenschaft, Wirtschaft und Politik wechseln sollten. Derzeit wird Transfer eher als ein Austausch von Blaupausen zwischen Wissenschaftseinrichtungen und Firmen gesehen. Personalmobilität wird vermieden oder gar durch institutionelle Hürden erschwert. Um hier voranzukommen, schlägt das Fachforum beispielsweise Programme für den Personalaustausch vor, die etwa wie das Public-Service-Fellowship-Programm oder das Science-Policy-Fellowship an den Universitäten der Rhein-Main-Region (RMU) gestaltet werden könnten.

Ein weiterer konkreter Vorschlag sind Transfergutscheine für Innovationen: Studierende bekommen 400 Euro, wenn sie sich in ihrer Praxisarbeit mit ganz konkreten, real existierenden Problemstellungen auseinandersetzen und mit Firmen oder Organisationen vor Ort Ideen entwickeln.

Dieses niedrigschwellige Förderinstrument wurde in einem Modellversuch in Sachsen-Anhalt schon ausprobiert.
Und hat sich erstaunlich gut bewährt. Transfergutscheine sprechen gerade Studierende aus den vermeintlich praxisfernen Disziplinen an, wie Geisteswissenschaftler oder Sozialwissenschaftler, weshalb sie sich bestens für soziale Innovationen eignen. Zwar sind Transfergutscheine nur ein kleiner Anreiz, in die Fläche gedacht aber enorm wirkungsvoll. Mit einer Investition von rund 16 Millionen Euro könnten bundesweit rund 10 Prozent aller Hochschulabsolventen eines Jahrgangs erreicht werden, was einem beachtlichen innovativen Ideenpool entspräche – auch wenn nicht jeder Schuss ein Treffer wird. Interessant an diesem Förderinstrument ist, dass es ohne viel Bürokratie oder festgesteckte Forschungsziele den Zauber des freien Forschergeistes voll entfachen kann und auch tut. Firmen oder Organisationen erhalten von den Studierenden häufig für sie innovative Ideen, auf die sie selbst so nicht gekommen wären. Das ist Transfer im besten Sinne.

Innovationen entstehen letztlich in Köpfen, weshalb Experten auch mal zwischen den Sphären Wissenschaft, Wirtschaft und Politik wechseln sollten.

Birgitta Wolff

Sie sprechen ein wichtiges Thema an: Muss Innovation in Deutschland nicht nur breiter gedacht werden, sondern auch freier?
Absolut. Unsere Forschungsfinanzierung ist sehr drittmittelabhängig – man muss Anträge schreiben, bei denen man so tut, als ob man vorher schon wüsste, was am Ende an Forschungsergebnissen herauskommen soll. Wenn das wirklich so wäre, könnte man es eigentlich auch gleich sein lassen. Wir wissen aber natürlich alle, dass Innovationen oft auf Zufällen beruhen oder aus ungewöhnlichen Konstellationen heraus entstehen, die so nicht planbar waren. Deshalb brauchen wir ergebnisoffene Forschung ohne konkreten Verwendungszweck, ohne Nutzungsvorgabe. Diese Erkenntnis ist nicht neu und es gibt auch bereits Gegenbewegungen, was man zum Beispiel am Freigeist-Fellowship der VolkswagenStiftung ablesen kann. Ich denke, wir brauchen in Deutschland noch sehr viel mehr Mut für ergebnis- und auch themenoffene Forschung, auch in der deutschen Spitzenforschung.

Ein breiterer Blick auf Innovation. Eine themenoffene Forschungsförderung. Brauchen wir darüber hinaus auch eine neue Kooperationskultur in Deutschland?
Sehr wichtig ist, dass Kooperationspartner aus den unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären auf Augenhöhe kommunizieren. Hochschulen erleben aber bei Kooperationen mit der Wirtschaft bei manchen Unternehmen mitunter die Erwartungshaltung, dass Hochschulen zu liefern haben. Gute Kooperationskultur vermeidet eine Besteller-Lieferanten-Situation und konzentriert sich stattdessen zunächst einmal auf die Problemdefinition, die man gemeinsam erarbeitet: Für welches Problem brauchen wir hier eigentlich eine Lösung? Wir erleben häufig, dass Unternehmen zwar merken, dass irgendetwas nicht klappt, selbst aber noch keine Problembeschreibung und Diagnose haben. Beides ist aber die Voraussetzung für Lösungen, die wirklich an den Ursachen ansetzen. Das gilt für kleinteilige Probleme bei Mittelständlern genauso wie für die großen wissenschaftlichen Herausforderungen wie Krebsforschung, Radikalisierung, Mobilität oder Frieden. Dieser Punkt ist in Kooperationen extrem wichtig: Bevor man auf Lösungsansätze aufspringt und sich womöglich festlegt, muss das Problem klar definiert sein.

Bei welchem Beispiel aus der Praxis war dies nicht der Fall?
Nehmen wir die Elektromobilität. In dieses Forschungsgebiet ist in den vergangenen Jahren viel Geld geflossen – vielleicht ist aber das Problem gar nicht Elektromobilität, sondern Mobilität. Wenn man die Frage zu eng stellt, verpasst man vielleicht die Chance, alternative und noch bessere Technologien zu finden. Eine gute Kooperation definiert also am Anfang wirklich erst einmal das Problem und folgt nicht nur der Agenda einer bestimmten Interessengruppe.

Birgitta Wolff (Foto: David Ausserhofer)
Birgitta Wolff auf dem Forschungsgipfel 2017.

Ihre Universität ist im Bereich Third Mission sehr aktiv. Sie haben als erste deutsche Universität einen eigenen Vizepräsidenten für Third Mission. Setzt sich die Universität so nicht auch selbst unter „Lieferdruck“?
Ich denke, es kommt darauf an, wie man es macht. Third Mission ist für uns ganz klar nicht Auftragsforschung. Andere Hochschulen haben da vielleicht eine andere Sichtweise. Wir betonen immer: Third Mission darf zunächst einmal nicht Ressourcen aus Lehre und Forschung abziehen, also aus der Wissenschaft. Im Gegenteil: Third Mission macht Forschung und Lehre besser. Sonst wäre sie keine universitäre Aufgabe, sondern vielleicht ein Beratungsgeschäft, was auch kommerzielle Anbieter hätten erledigen können. 

Third Mission von Hochschulen muss synergetisch mit Wissenschaft und Lehre verwoben sein?
Genau, Lehre und Forschung müssen etwas davon haben. Das ist an der Goethe-Universität eine klare line of distinction, die wir in Frankfurt vielleicht stärker betonen als anderswo. Ich habe diese Argumentation in Diskussionsrunden oder beim Transfer-Audit des Stifterverbandes schon öfter angebracht und gemerkt, dass manche das so deutlich noch nicht gehört hatten. Wenn Third-Mission-Aktivitäten Ressourcen aus Lehre und Forschung abziehen und deutlich wird, dass an dieser Stelle auf absehbare Zeit nichts zurückkommt, sage ich immer: Das ist euer Hobby oder eure Nebentätigkeit, aber nicht unsere universitäre Third Mission.

Der Erfolg von Third Mission dürfte manchmal nur schwer messbar sein. Wo liegt da die Messlatte?
Den Erfolg von Third Mission nicht greifen zu können, ist ziemlich selten. Wenn Akteure – Forschende, Lehrende oder Studierende – sagen, sie haben durch Third Mission etwas dazugelernt, dass sie jetzt etwas besser erledigen können, mit einem besseren Gefühl, dass sie neue Ideen oder Kooperationsmöglichkeiten für die Universität sehen – dann ist das Erfolg. Dieser Erfolg ist dann vielleicht nicht ein direkt messbarer Output, aber ein gesellschaftlicher Outcome, womit wir wieder an der Stelle sind: Wir brauchen mehr Mut für offene Ergebnisse.

Wir müssen uns den scheinbaren Luxus erlauben, immer auch an den Grundlagen zukünftigen Fortschritts mitzuarbeiten – im Sinne einer längerfristig orientierten Daseinsvorsorge. Und dabei sollten wir uns nicht auf Programme beschränken, wo am Ende beispielsweise herauskommt: Der Mehrwert bei diesem Auto sind so und so viel zusätzliche PS. 

Forschungsgipfel 2017

Logo Forschungsgipfel 2017
Illustration: Stifterverband

Brauchen wir eine neue Innovations- und Wagniskultur in der Wissenschaft? Zu diesem Thema referierte Birgitta Wollf auf dem Forschungsgipfel 2017 in Berlin.

Zum Videomitschnitt des Vortrages