Micol Alemani (Illustration: Irene Sackmann)
Micol Alemani (Illustration: Irene Sackmann)

Hochschullehre: „Ich will Studierende für das unerschrockene Experimentieren begeistern“

Mit ihrem Ansatz des forschenden Lernens hat Micol Alemani das Physik-Grundpraktikum an der Universität Potsdam umgekrempelt. Ihre Uni ist begeistert, ebenso wie der Stifterverband, der sie mit einem Fellowship auszeichnete. Teil 2 unserer Serie zu Innovationen in der Hochschullehre.

Als das Coronavirus im Frühjahr 2020 den gesamten Hochschullehrbetrieb lahmlegte, hat das Lehrende wie Studierende eiskalt erwischt. Eine Praktikumsveranstaltung für Physikstudierende online durchführen? Unmöglich! Nicht unmöglich für Micol Alemani, die an der Universität Potsdam am Institut für Physik und Astronomie die Leitung des Grundpraktikums innehat.

Die 42-jährige Festkörperphysikerin machte sich ans Werk und füllte an die 50 große Umschläge mit dem Material, das die Studierenden für ihre Messexperimente brauchten, und schickte sie ihnen kurzerhand per Post zu. Die Veranstaltung fand dann per Zoom statt, die Zimmer der Studierenden wurden kurzfristig zum Labor. Sie lacht, wenn sie das erzählt. Und man merkt der gebürtigen Italienerin an: Die Lehre macht ihr Spaß, dafür ist ihr keine Mühe zu groß.

Kein wissenschaftlicher Erfolg ohne Fehler

Ich vermittle meinen Studierenden, auch Fehler als Erfolge zu sehen, denn aus Fehlern kann man etwas lernen, das einem beim nächsten Experiment weiterhilft.
Micol Alemani (Foto: David Ausserhofer)
Micol Alemani (Foto: David Ausserhofer)

Micol Alemani

Institut für Physik und Astronomie an der Universität Potsdam

Auch deshalb hat sie das Grundpraktikum, das Physikstudierende im Haupt- oder Nebenfach während der ersten vier Bachelorsemester absolvieren, komplett umgekrempelt: „Ich möchte meine Studierenden mit forschendem Lernen für die Wissenschaft und das unerschrockene Experimentieren begeistern.“ Dieses Grundpraktikum im Physiklabor sei essenziell für das spätere wissenschaftliche Arbeiten. „Deshalb definiere ich den Lernerfolg anders, als die meisten Studierenden es vielleicht bislang gewohnt sind. Ich vermittle ihnen, auch Fehler als Erfolge zu sehen, denn aus Fehlern kann man etwas lernen, das einem beim nächsten Experiment weiterhilft“, erläutert Alemani ihr Lehrkonzept und fügt hinzu: „Iteration ist ein so wichtiges Prinzip in der Forschung.“

In den USA, wo die Wissenschaftlerin mehrere Jahre an der University of California in Berkeley, in Stanford und an der California State University lehrte und forschte, lernen Studierende das schon früh – anders als in Deutschland und in Italien. „Es ist nicht primär wichtig, die Werte aus der Fachliteratur zu reproduzieren. Die Studierenden sollen vor allem Lust darauf bekommen, etwas systematisch auszuprobieren.“

Als Wissenschaftlerin gute Lehre voranbringen

Groß war Alemanis Freude darüber, dass sie für ihr Lehrkonzept 2017 eines der mit 15.000 Euro dotierten Junior-Fellowships für Innovationen in der Hochschullehre des Stifterverbandes erhalten hat. Das war ein Jahr, nachdem sie mit ihren drei Kindern und ihrem deutschen Ehemann, ebenfalls Physiker, aus den USA nach Deutschland umgezogen war. Die Wissenschaftlerin hatte sich nach dem Umzug nach Deutschland erfolgreich um die Stelle als Praktikumsleiterin in Potsdam beworben und 2016 ihre Stelle angetreten. „Ich habe immer schon sehr gerne gelehrt. Deshalb fiel mir die Entscheidung nicht schwer, eine Stelle mit dem Schwerpunkt auf Lehre anzunehmen“, sagt sie. Das positive Feedback der Studierenden und deren Spaß am forschenden Lernen zeigten ihr immer wieder aufs Neue, dass ihre Entscheidung, als Wissenschaftlerin andere Prioritäten zu setzen, richtig gewesen sei, betont Alemani. Über ihre Fakultät erfuhr sie von dem Fellowship-Programm und bewarb sich, weil sie ihre Idee von guter Lehre voranbringen wollte.

Sie selbst studierte in Mailand – und hatte dort genau ein solches Aha-Erlebnis: „Statt der sonst üblichen vorgegebenen Versuche beim Praktikum ließ unser Professor uns ein Projekt bearbeiten, uns überlegen, welche Messmethoden dafür infrage kommen und unsere Schlüsse daraus ziehen. Da habe ich eine Ahnung davon bekommen, was Experimentalphysik ist und wie es ist, als Forscherin für ein Projekt verantwortlich zu sein.“

Diese Erfahrung machten Studierende normalerweise erst kurz vor dem Diplom oder als Doktorandin beziehungsweise Doktorand, bedauert die Wissenschaftlerin. In Deutschland, wo sie an der Freien Universität promovierte und schon als Doktorandin lehrte und Studierende betreute, sei es in dieser Hinsicht ähnlich wie in Italien.

Fellowships für Innovationen in der Hochschullehre

Weg von der Vorlesung mit abgelesenen Skripten, hin zu innovativen Lehrformaten, bei denen die Studierenden im Mittelpunkt stehen – das war das Ziel des Fellowship-Programms von Stifterverband und Baden-Württemberg Stiftung. Ob Virtual Reality in der Vorlesung, Chatbots als Tutor, neue Prüfungsformate oder der Einsatz von Kunst in der Wissenschaftskommunikation: Die Fellowships sollen Anreize für Lehrende schaffen, neue Wege in der Hochschullehre zu entwickeln und die Studierenden damit fit zu machen für die Anforderungen der Arbeitswelt 4.0. Zwischen 2011 und 2020 wurden jährlich bis zu 15 Fellowships ausgeschrieben, die je nach Art unterschiedlich dotiert sind. Jedes Fellowship umfasste neben der finanziellen Förderung die Teilnahme an zwei zweitägigen Fellow-Treffen sowie an einer öffentlichen Lehr-/Lernkonferenz im Jahr, die dem gegenseitigen Austausch und der persönlichen Weiterentwicklung dienen sollen.

Eine zweite Programmlinie legt seit 2019 einen besonderen Fokus auf digitale Lehr- und Lernformate. Hier arbeitet der Stifterverband mit dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft in NRW (rund 40 Fellowships pro Jahr) und dem Thüringer Wirtschaftsministerium zusammen (sieben Fellowships).

Studierende beim Experimentieren (Illustration: Irene Sackmann)
Studierende beim Experimentieren (Illustration: Irene Sackmann)

Dass diese Erfahrung ein Schlüsselerlebnis für ihre eigenen Lehrveranstaltungen war, glaubt man ihr sofort, wenn Alemani mit spürbarer Freude davon berichtet, wie Studierende aus dem vierten Semester eine eigene Idee umsetzen und mit einer Colaflasche, Wasser sowie einer Fahrradpumpe eine Rakete zusammenbauen und physikalische Größen während des Fluges mithilfe eines Mikrocontrollers messen. Oder wie sie auf dem Gebiet der Optik lernen, ein optisches Spektrometer zu bauen, um Fanta von Orangina zu unterscheiden. 

Der Mensch ist ein spielfreudiges Wesen und Experimente wie diese verknüpfen den Spieltrieb mit einem konkreten Nutzen – Skills, die es später auch für die Forschung braucht: Was bedeutet Messen? Wie dokumentiere ich korrekt meine Experimente, wie führe ich ein Laborbuch? Und wie kommuniziere ich mit anderen über meine Experimente und Ergebnisse? Wie schreibt man einen Forschungsantrag und wie plant man ein Projekt? Im Praktikum lernen die Studierenden dies.

Weitere Finanzielle Unterstützung durch die Uni Potsdam

Ihr Engagement blieb in der Fakultät nicht unbemerkt: Die Uni Potsdam unterstützte Alemani zusätzlich mit der gleichen Summe, die sie im Rahmen ihres Fellowships erhielt. Das Geld fließt in Materialien für die Experimente und in studentische Hilfskräfte. „Es ist eine tolle Bestätigung für mich und meine Arbeit“, sagt sie. Auch weil die Universität ihr durch die zusätzliche finanzielle Förderung signalisiere: Lehre ist wichtig! Und: Wer exzellente Lehre macht, ist ein Leistungsträger beziehungsweise eine Leistungsträgerin.

Normalerweise sehen die Physikgrundpraktika so aus: Mit rezeptartig beschriebenen einzelnen Arbeitsschritten werden schon bekannte, in der Fachliteratur dokumentierte Versuche „nachgebaut“ und die Ergebnisse verglichen. Das gibt es bei Alemani nicht.

„Von solchen Strukturen sind viele Studierende frustriert, wenn etwas nicht funktioniert, oder verunsichert, wenn etwas Neues auftaucht, das sie noch nicht kennen, oder wenn das Resultat nicht mit dem erwarteten übereinstimmt“, sagt Alemani. Es gehe aber vielmehr darum, etwas über Prozesse zu lernen – und Messunsicherheiten gehörten nun einmal dazu.

Die Studierenden werden vom ersten bis zum vierten Semester Schritt für Schritt auf die eigenen Projekte vorbereitet: „Sie nutzen dafür ihr theoretisches Wissen aus der Vorlesung. Ganz am Anfang gebe ich die Fragestellungen noch vor, lasse jedoch Freiheit bei der Art der Durchführung und den Analysemethoden. Später entwickeln die Studierenden ihre eigenen Fragestellungen.“

Es macht großen Spaß, sich mit internationalen Kolleginnen und Kollegen auszutauschen und sich von deren Ideen für die eigene Lehre inspirieren zu lassen – und wiederum andere mit den eigenen Ideen zu beeinflussen.
Micol Alemani (Foto: David Ausserhofer)
Micol Alemani (Foto: David Ausserhofer)

Micol Alemani

Neuer Forschungsfokus auf Physikdidaktik

Für Micol Alemani hat sich durch die starke Konzentration auf die Lehre auch der Fokus ihrer eigenen Forschung verändert. Ihr Forschungsfeld ist nun die Physikdidaktik. Sie untersucht beispielsweise, wie sich Konzepte des forschenden Lernens auf den Studienerfolg auswirken. Daraus ziehe sie ebenso große Befriedigung wie früher aus ihrer Forschung über Nanotechnologie, betont die Physikerin. Es mache großen Spaß, sich mit internationalen Kolleginnen und Kollegen auszutauschen und sich von deren Ideen für die eigene Lehre inspirieren zu lassen – und wiederum andere mit den eigenen Ideen zu beeinflussen.

Deshalb auch bedeuten ihr die regelmäßigen Fellowtreffen, die Teil der Förderung des Stifterverbandes sind, so viel: „Als Neuling in Deutschland konnte ich mir dort beim Austausch mit den anderen Fellows ein sehr gutes Bild davon machen, wie sich Lehre an deutschen Hochschulen gerade weiterentwickelt – und wo die Lehrenden noch an Grenzen stoßen.“ Für Alemani sind solche Grenzen dazu da, überwunden zu werden.